Sie ist die Meisterin der Manipulation: Gretchen Lowell, die Serienkillerin aus Chelsea Cains Thrillern „Furie“ und „Grazie“, empfindet immer dann ein geradezu teuflisches Vergnügen, wenn sie andere Menschen täuschen, beeinflussen und verführen kann. Darunter leidet vor allem Archie Sheridan, der zunächst als Opfer Gretchens grausamer Willkür ausgesetzt ist, sich später jedoch von Tag zu Tag stärker zu seiner Peinigerin hingezogen fühlt. Und genau darauf hat es die skrupellose Verbrecherin grundsätzlich abgesehen: Sie genießt die emotionale Abhängigkeit der Personen, die sie spinnengleich in ihren Bannkreis zieht. Doch wie gelingt es Gretchen, von ihrer wahren Natur abzulenken? Warum sucht Archie Sheridan ihre tödliche Nähe? Wieso lassen sich stets neue Opfer von ihr täuschen? Die Antwort ist so einfach wie unheimlich: Die Serienkillerin ist unwiderstehlich. Charme, Sexappeal und Intelligenz vermischen sich zu einer Sogkraft, der sich kaum jemand widersetzen kann.
Gretchen Lowell hat ein flaches, hübsches Gesicht und elfenbeinglatte Haut. Ihre Augen sind groß, die Pupillen hellblau. Und sie hat Stil – Archie Sheridan fühlt sich in „Grazie“ durch ihr Lächeln an die Filmstars der 40er Jahre erinnert. Die Macht der Schönheit verzaubert Gretchens Umfeld und verstellt den Blick auf ihre dunklen Seiten. Außerdem kann sie zärtlich sein, sich rührend um ihre Opfer kümmern, auf ihre Wünsche eingehen und mit ihnen flirten. Archie nennt sie „Liebling“ oder „Schatz“, die Reporterin Susan spricht sie mit „Täubchen“ an. Doch oft kippt einen Moment später Gretchens Stimmung. Dann wird sie brutal, böse und fordernd. Sie beleidigt andere Menschen, macht sarkastische Bemerkungen. Droht. Demütigt. Foltert. Tötet. Bestes Beispiel in „Furie“: Nachdem sie zärtlich mit ihren Fingerspitzen über Archies Brustkorb gestrichen hat, lässt sie einen Hammer auf einen Nagel sausen und rammt diesen in den Körper des Polizisten. Ihre brutale Signatur – ein Herz – entsteht.
Kein Zweifel: Gretchen Lowell ist eine Psychopatin. Sie handelt nicht vernünftig und hat Spaß daran, andere zu quälen. Doch sie kann eben auch eine einfühlsame, gute Zuhörerin sein und eine echte Beziehung zu ihren Opfern aufbauen. Dieses widersprüchliche, gegensätzliche Verhalten folgt einem Muster und hat zwei vorrangige Ziele: Mord & Manipulation. Ist sie also eher eine Bestie, ein Monster? Keineswegs. „Ich bin zu menschlichen Gefühlen fähig“ sagt Gretchen voller Ironie in „Grazie“ zu Archie Sheridan und empfindet große Befriedigung, als dieser ihr zusichert: „Ich werde tun, was du willst!“. Er ist ihr ausgeliefert, hoffnungslos. Für die Schwächen anderer Menschen hat sie ein Gespür. Zudem erkennt sie sofort, ob jemand die Wahrheit sagt. Diese Fähigkeiten und ihr vorausschauendes Verhalten sorgen für eine Überlegenheit, die Gretchen schamlos ausnützt. Und bei alldem huscht ein Lächeln über ihr makelloses Gesicht. Verführung ist ein Spiel für sie. Ein tödliches.
Günter Keil